Baden-Baden (ots) – NSU-Prozess sei mit Erwartungen überlastet gewesen / Thomas Fischer in „Sprechen wir über Mord?! – Der SWR2 True Crime Podcast“
Baden-Baden: Der frühere Vorsitzende Bundesrichter und Strafrechtsexperte Thomas Fischer hat sich im SWR2 Podcast „Sprechen wir über Mord?!“ zu der schriftlichen Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts München im „NSU-Prozess“ geäußert. Ohne eine Prognose zu den Aussichten der Revisionen geben zu wollen, sagte er, in sachlich-rechtlicher Hinsicht halte er die Argumentation des Gerichts, warum Zschäpe Mittäterin an den Morden gewesen sei, für ein entscheidendes Problem. Hier falle bei erster Durchsicht der Urteilsgründe auf, dass „ein gewisses Maß an Selbstreferenzialität“ in der Begründung stecken könne, vielleicht auch Zirkelschlüssigkeit, so der frühere Bundesrichter im SWR. Bei der Frage nach der einer Mittäterschaft von Beate Zschäpe, so Fischer, habe das Gericht vor dem Problem gestanden, dass die Ermittlungen nur wenige Einblicke in die innere Struktur der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ brachten und die Angeklagte Beate Zschäpe bestritt, jeweils vor den Taten etwas von den Mordplänen ihrer Freunde Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gewusst zu haben. Das Oberlandesgericht München hat diesen Aussagen von Zschäpe in seinem 3025 Seiten langen Urteil keinen Glauben geschenkt und sie auch nicht nur als Gehilfin, sondern als Mittäterin der Morde und Raubüberfälle angesehen.
Thomas Fischer: Beweiswürdigung „nicht unproblematisch“ Die Beweiswürdigung des Münchner Staatsschutzsenats zu dieser Frage hält Thomas Fischer für nicht unproblematisch: „Wir haben auf der einen Seite eine Konstruktion des Oberlandesgerichts zur Frage der Gründung der terroristischen Vereinigung. Da sagen sie: Die drei hatten einen gemeinsamen Plan, der sich auf eine Serie von zunächst unbestimmten Einzeltaten bezog. Wenn man einen solchen Plan hat, ist man aber nicht schon zwingend Mittäter oder Beteiligter jeder Einzeltat“, so Fischer. Deshalb müsse für jeden einzelnen Mord und jeden einzelnen Raubüberfall die Frage der Mittäterschaft geklärt werden. Hier stellten die Münchner Richter entscheidend auch auf die Planung der gemeinsamen terroristischen Vereinigung ab. „Woher weiß man, dass es so sein sollte? Das schließt der Senat daraus, dass es dann so gekommen ist.“ Das berge die Gefahr, in einem Zirkelschluss die eigene These zu bestätigen. “Beim ersten Blick auf das Urteil scheint es so, als ob die Konstruktion des mittäterschaftlichen Plans sich für den Senat aus dem Ablauf der einzelnen Taten ergibt und die Täterschaft an den einzelnen Taten aus der Konstruktion des gemeinsamen Plans“, so Fischer. „Und das wäre eine Konstruktion, die auf sich selbst verweist.“ Verfahren mit Anspruch auf historische Aufarbeitung überlastet Zur Frage, ob das schriftliche Urteil mit Blick auf das Leid der Angehörigen angemessen formuliert sei, verteidigt Thomas Fischer die Richter des Münchner Oberlandesgerichts: „Solche Verfahren werden mit dem Anspruch, eine historische Aufarbeitung durchzuführen, weit überlastet“, sagte Fischer im SWR.
Falsche Erwartung an das Verfahren
Ähnlich sehe es mit der Enttäuschung der Angehörigen darüber aus, dass das Urteil keine Beschreibung ihrer Verluste und ihres Schmerzes enthalte. Zweifellos habe die Mordserie viel Leid gebracht. “Das will niemand kleinreden“, so Fischer. „Aber zu sagen, die Hauptaufgabe des Verfahrens oder des Vorsitzenden sei es gewesen, die emotionalen Verletzungen der Hinterbliebenen zu besänftigen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie verstanden werden und dass ihre Trauer und ihr Leid anerkannt werden, ist eine falsche Erwartung“. Eine solche Erwartung hätte aus Sicht von Thomas Fischer das Gericht nicht erfüllen können: „Dafür ist so eine Urteilsverkündung nicht der richtige Ort.“
SWR2 Podcast „True Crime“ Im Podcast SWR2 True Crime besprechen Victoria Merkulova und ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt mit Bundesrichter a. D. Thomas Fischer Verbrechen, die in den Schlagzeilen waren.
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